Die Ausstellung „Alte Meister neu gesehen“ wurde mit dem Gottesdienst am 24.09.2017 um 10 Uhr in der St. Peter Kirche eröffnet. Pastor Rosenau bezog sich in seiner Predigt auf das Lutherbild von Schiel. 2017 – im Jahr des 500. Reformationsjubiläums – sind Martin Luther und sein Zeitgenosse Lukas Cranach der Ältere in den Fokus des Künstlers geraten. Das bekannte Lutherportrait interpretiert Schiel neu: „Überall geht es um Macht um Geld. Aber das Geld hat keine göttliche Allmacht. Und erlösen kann es uns erst recht nicht.“ Kunst benötigt für ihre starke Botschaft keine Worte.
Im Anschluss an den liturgischen Teil begrüßte Bürgervorsteher Boy Jöns die Gäste und übergab das Wort an die Kunsthistorikerin Dr. Constanze Wilken.
Wer Erhard Schiels Oeuvre kennt, dürfte über seine Hinwendung zu den Alten Meistern nicht überrascht sein. Als Radierer und Kupferstecher hat der Künstler bereits Zwiesprache mit Dürer gehalten, sich in dessen Werk vertieft, um für sich neue Wege zu finden. In seinen Ölbildern spielten die Klassiker der Kunstgeschichte als Motiv bisher keine große Rolle. Schiel experimentiert mit seiner oft surrealen Formensprache und einer für ihn typischen Farbpalette. Sein Stil ist heute in den Ölbildern genauso unverwechselbar wie in seinen Radierungen.
Motivisch beschäftigte sich der Künstler mit der norddeutschen Landschaft, mit Literatur und Musik und setzte sich kritisch mit umweltpolitischen, sozialen und wirtschaftlichen Themen auseinander.
Das Wesen der Kunst ist ihre Offenheit, ihre Durchlässigkeit, ihre faszinierende Fähigkeit, den Finger auf Wunden zu legen, ohne anzuklagen. Kunst ist nicht einfach schön – dann gleitet sie in den Kitsch. Kunst berührt, weil sie uns aufwühlt, mitnimmt auf eine gedankliche Reise, uns neue Welten eröffnet, uns schockiert oder verblüfft. Das kann ein Künstler mit seinen Werken erreichen – das erwarten und wünschen wir uns.
Und genau das tut Erhard Schiel mit diesen neuen Werken.
Was macht den Reiz der Alten Meister aus? Warum beschäftigen sich Generationen von Künstlern und Kunsthistorikern immer aufs Neue mit den Werken von Rembrandt, Rubens, Velasquez, Caravaggio oder Hieronymus Bosch? Weil diese Werke uns auch nach Jahrhunderten immer noch etwas zu sagen haben. Weil sie Spiegelbilder ihrer Zeit und darüber hinaus zeitlos schön sind.
Verweilen wir kurz bei der Schönheit – der BELLEZZA – wie der Italiener sagt. Bella figura machen – ist ein im Italienischen gebräuchlicher Ausdruck und bedeutet viel mehr als nur gut auszusehen. Italien ist das Land der Renaissance – hier wurde die Antike wiederentdeckt und die Kunst erlebte nach dem düsteren Mittelalter eine neue Blüte und Größe.
Da wundert es nicht, dass Erhard Schiel ausgerechnet bei einem Besuch der Lagunenstadt Venedig, der Serenissima, zu dieser Werkreihe inspiriert wurde. Wir betrachten das Gemälde „Markusplatz, Venedig“ und tauchen ein in das schöne, zauberhafte, geschichtsträchtige, von Kriegen und politischen Intrigen gebeutelte, mit Kunst und Architektur reich beschenkte und so widersprüchliche Venedig.
Ist es die morbide Schönheit einer langsam dem Verfall anheim gegebenen Stadt, die Künstler seit Jahrhunderten berührt und inspiriert?
Bis ins 19. Jahrhundert gehörte die Grande Tour zur Ausbildung eines jeden gebildeten jungen Adligen oder reichen Bürgersohnes. Auf der Bildungsreise durch Europa machte man gern länger Halt in Italien. Die jungen Herren lernten Stil, Kultur und Sitten und genossen das Leben „im Land wo die Zitronen“ blühen. Venedig gehörte zum Pflichtprogramm.
Der junge Lord Byron schrieb während seines Venedigaufenthaltes:
„Verstummt sind in Venedig Tassos Lieder,
Still rudert, ohne Sang, der Gondolier,
Paläste bröckeln auf das Ufer nieder,
Und selten tönt Musik durch das Revier,
Die Zeit ist hin, doch weilt noch
Schönheit hier.“Und jedem ist wohl Thomas Manns 1911 geschriebene Novelle „Tod in Venedig“, ein Begriff. Wenn unser Held Gustav Aschenbach Venedig durch den Kanal von San Marco mit dem Schiff anfährt:
„So sah er ihn denn wieder, den erstaunlichsten Landungsplatz, jene blendende Komposition phantastischen Bauwerks, welche die Republik den ehrfürchtigen Blicken nahender Seefahrer entgegenstellte, die leichte Herrlichkeit des Palastes und die Seufzerbrücke, die Säulen mit Löw’ und Heiligem am Ufer, die prunkend vortretende Flanke des Märchentempels, den Durchblick auf Torweg und Riesenuhr, und aufschauend bedachte er, dass zu Lande, auf dem Bahnhof in Venedig anlangen- einen Palast durch die Hintertür betreten hieße und dass man nicht anders, als wie nun er, als zu Schiff, als über das hohe Meer die unwahrscheinlichste der Städte erreichen sollte.“
Die Worte nachklingen lassend können wir uns vorstellen, wie betört der Künstler Erhard Schiel war, als er an den Kanälen entlangspazierte, in einen Kostümverleih trat und vom Inhaber in ein venezianisches Renaissancekostüm gekleidet wurde.
Fotografieren wollte man den charmanten Künstler aus Deutschland, und in verschiedenen Stationen ging es durch die Stadt, bis auf den Markusplatz. Die Phantasie des Künstlers schlug Kapriolen angesichts des bunten Treibens und nun gar in ein stilechtes Kostüm gewandet! Impressionen verdichteten sich, je länger er später über das Erlebte nachdachte, vermengten sich bewusst und unbewusst und das Gemälde mit Selbstporträt auf dem Markusplatz entstand. Leonardo da Vinci scheint Pate zu stehen, betrachtet wohlwollend, leuchtet aus dem nebligen Himmelsgrau hervor. Leonardo, der Meister der Renaissance, Künstlerfürst, Universalgenie.
Darf man einen Künstler heute noch Meister nennen? Man darf, wenn er die künstlerischen Techniken meisterhaft beherrscht – wie Erhard Schiel. In vielen weiteren Bildern setzt sich der Künstler nun zurück in der norddeutschen Heimat – mit den Alten Meistern auseinander, nähert sich ihrer Herangehensweise an, forscht, huldigt der Schönheit des bereits Erschaffenen.
Wir sehen das Selbstporträt Dürers, der kokett mit dem Betrachter Zwiesprache hält. Die Farben leuchtend, zart lasierende Schichten Ölfarbe und feine Pinselstriche unterstreichen die Lockenpracht. Dabei sollten wir den Hintergrund nicht außer Acht lassen und näher herantreten – denn in der Landschaft versteckt sich die Gegenwart, holt Schiel das Motiv mit Windkraftanlagen in die Moderne. Segen und Fluch der Technik war in vielen Radierungen Schiels ein Thema
Eine Ode an die Kunst Vermeers ist Schiels Interpretation des Mädchens mit dem Perlohrring. Nicht Kopist will Schiel sein, sondern einer, der die Brillanz des Originalwerks neu in Szene setzt und in die Gegenwart holt. Mit modernen Farben, mit seinen Farben – dem Schiel Blau.
In dieser Herangehensweise ist Schiel nicht allein. Es gab und gibt immer wieder Künstler, denen die Alten Meister nahe sind, die sich in Dialog mit ihnen begeben, um Neues für sich zu entdecken und Neues zu schaffen. Alain Jacquet hat vor allem in den 60ziger Jahren im Stile der Pop Art großartige Verfremdungen einiger Impressionisten und eines Ingresbildes geschaffen. Die Venus mit dem Ölkanister auf den Schultern verwirrt, rüttelt den Betrachter wach, amüsiert und macht nachdenklich.
Stefano Bolcato, ein zeitgenössischer Italiener, schaffte außergewöhnliche Neuinterpretationen von Werken Frida Kahlos, Sandro Boticellis oder da Vincis – im Stile von Lego Figuren.
Auch Schiel gelingt es in seinen Neuinterpretationen – scheinbar weit voneinander entfernte Welten zusammenzuführen. Das funktioniert allerdings nur, wenn man einige fundamentale Elemente und Referenzen beibehält. Die Alten Meister, derer der Künstler sich angenommen hat – haben einen hohen Wiedererkennungswert. Das lässt den unbedarften Betrachter vielleicht sagen, achja, kenne ich, was soll das?
Und dann tritt er vielleicht näher und entdeckt die Schiel’schen Besonderheiten, die hintergründigen Details, die eine bisher bekannte Bildwelt auf den Kopf stellen.
Nehmen wir den Narziss von Caravaggio. Wir sehen ein großartig gemaltes Gemälde – ganz im Stile des Meister des Chiaruscuro – der Hell –Dunkel – Malerei. Michelangelo Merisi, genannt Caravaggio, benannt nach seinem Geburtsort – lebte von 1571-1610. Sein brutaler Umgang mit Licht und Schatten war zu seiner Zeit revolutionär, sein ausschweifender, brachialer, nonkonformer Lebensstil schon zu Lebzeiten legendär. Genauso ist sein Werk – es hat die Zeiten überdauert, ohne etwas von seiner mitreissenden Direktheit zu verlieren.
Wer ist dieser Narziss? In der griechischen Mythologie der schöne Sohn des Flußgottes Kephisoss und der Leiriope, der die Liebe anderer zurückwies und sich in sein eigenes Spiegelbild verliebte.
Was zeigt uns Schiel? Ein Spiegelbild, das in unserer Zeit für einen machthungrigen Egomanen steht – Donald Trump, selbstverliebter, aggressiver, skrupelloser Geschäftsmann.
Betrachten wir als nächstes das „Konzert im Ei“. Ein symbolhaftes, vieldeutiges Werk aus dem Kreis der Nachfolger von Hieronymus Bosch. Seine Lebensdaten sind nicht bekannt – um 1450 hat dieser außergewöhnliche Künstler gelebt. Sein Geist war seiner Zeit weit voraus. Seine Werke geben noch heute Rätsel auf – sie stecken voller Anspielungen und spitzfindiger Beobachtungen seiner naiven, brutalen, instinktgeleiteten, gierigen, eifersüchtigen, neidischen, lustvollen Zeitgenossen. Es finden sich zahlreiche fantastische Elemente in den Werken von Bosch – Science Fiction würden wir heute sagen.
Gesellschaftskritik war zu keiner Zeit beliebt – wer lässt sich schon gern den Spiegel seiner eigenen Unzulänglichkeiten und Verfehlungen vorhalten. Darin war Bosch modern. Die Menschen haben sich nicht geändert. Wir zerstören unsere Umwelt in rasendem Tempo, Wirtschaft und Wachstum sind die Schlüsselworte – Unworte. Ohne Nachhaltigkeit und Empathie für unsere Mitgeschöpfe werden wir untergehen. Die Bienen stehen symbolisch für das Sterben der Menschheit. Pestizide töten Mensch und Tier. Bald bleibt uns nur der Ausweg in neue Galaxien. Ob wir das noch erleben? Ich bezweifle es. Der Künstler Schiel zeigt uns diesen Weg. Am unteren Bildrand drängen futuristische Gefährte nach draußen.
Schauen Sie genau hin. Seine Sie offen für das Unbequeme, genießen Sie die originellen versteckten Hinweise, die Erhard Schiel uns gibt. Sehen. Denken. Verlassen wir unsere gewohnte Perspektive.